Rumpelstilzchen hat Gold gesponnen

„Rumpelstilzchen hat wieder Gold gesponnen!“ rief Douglas Hofstadter 1975 aus, nachdem er zum ersten Mal das Energiespektrum von Blochelektronen im Magnetfeld berechnen und in einem Graphen auftragen konnte. Dies war die Geburtsstunde des sogenannten Hofstadter-Schmetterlings. Rumpelstilzchen war der Spitzname des Tischrechners Hewlett-Packard 9820A, mit dessen Hilfe diese Rechnungen überhaupt erst möglich wurden. In der Arbeitsgruppe von Gustav Obermair betrat der spätere Pulitzer-Preisträger gemeinsam mit Gregory Wannier damit erstmals das eigentümliche Gebiet der Selbstähnlichkeit und der Fraktale in der Festkörperphysik.

 

Der HP 9820A war der erste mit einer algebraischen Hochsprache programmierbare Tischrechner von Hewlett-Packard. Der Rechner zeigt alle Eingaben auf einem 16 Zeichen umfassenden alpha-numerischen, scrollbaren Display an. Er verfügt über einen kleinen Drucker und einen Magnetkartenleser, mit dessen Hilfe Daten und Programme eingelesen oder gespeichert werden können. Er besitzt sechs Speicherregister und kann auf 173 weitere zugreifen.

 

In der Grundausstattung kann er lediglich Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division und Quadratwurzeln berechnen. Die Basis der Leistungsfähigkeit des Rechners bilden die drei unbelegten Felder mit jeweils zehn Tasten auf der linken Seite der Tastatur. Diese können nach eigenem Bedarf programmiert oder durch zusätzliche ROM-Packs belegt werden. Diese ROM-Packs schiebt der Nutzer in einen der Schächte an der Oberseite des Rechners und legt eine Maske über die Tastatur, die ihm die neue Tastenbelegung anzeigt. Im Jahr 1973 kostete der Rechner ohne Erweiterungen 4975 US-Dollar.
Durch Programmierbarkeit, Speicherkarten und ROM-Packs wurde der HP 9820A zu einem überaus flexiblen Rechner, der es erlaubte, auch komplexe numerische Berechnungen durchzuführen. Damit aus dem HP 9820A Rumpelstilzchen werden konnte, bedurfte es mehr als Flexibilität und Leistungsfähigkeit. Die Fähigkeit, in langen Rechennächten Gold zu spinnen, erhielt er durch eine Arbeitsgruppe, die sich durch einen hohen Grad an internationaler Kooperation und durch niedrige Hierarchieebenen auszeichnete.

 

Internationale Kooperation

„Welch ein Kontrast zu meinem früheren Institut in München! Mit Gustav Obermair und Ullrich Schröder waren hier junge, unkonventionelle, dynamische Professoren der Theoretischen Festkörperphysik, die auf dem Stand der aktuellen Forschung waren und über beste internationale Kontakte verfügten“, berichtete Alexander Rauh, der von 1971 bis 1975 als Assistent am Lehrstuhl Obermair forschte. Er arbeitete in der „Viererbande“mit, deren weitere Mitglieder Douglas Hofstadter, Gustav Obermair und Gregory Wannier waren.

 

Gegory Wannier kam 1966 auf Einladung der TU München ein halbes Jahr in die Landeshauptstadt und hielt dort ein Seminar zur Elektronentheorie in Festkörpern ab. An der Vorbereitung des Seminars arbeitete ein junger Assistent mit. Diesen Assistenten – die Rede ist von Gustav Obermair – holte Wannier ein knappes Jahr später als Post Doctoral Fellow an die University of Oregon in Eugene. Damit war die Basis für eine über 15 Jahre andauernde Zusammenarbeit gelegt, die durch den Tod Wanniers im Jahr 1983 ihr Ende fand.

 

Im Sommer 1968 erhielt Obermair mit der Unterstützung Wanniers eine Stelle als Assistant Professor und später als Associate Professor an der Universität Pittsburgh. Die gewonnenen Erfahrungen prägten ihn. Hierzu zählten die enge Zusammenarbeit zwischen Theoretikern und Experimentalphysikern sowie die Gleichrangigkeit im gemeinsamen Umgang. Diesen Forschungsstil konnte er an der Reformuniversität Regensburg (im Senat herrschte Viertelparität!) ab 1970/71 fortführen.

 

 

Ein Stipendium der Humboldt-Stiftung ermöglichte es Gregory Wannier 1975, für die Dauer von sechs Monaten in Obermairs Arbeitsgruppe mitzuarbeiten. In seiner Begleitung befand sich sein Doktorand Douglas Hofstadter, der Sohn des Nobelpreisträgers Robert Hofstadter. Im Gegensatz zu seinem Vater wandte er sich von den Elementarteilchen ab und der Festkörperphysik zu. Auf seiner Suche nach einer Doktorarbeit gelangte er zu Wannier. Dieser schlug Hofstadter die Untersuchung des Energiespektrums von Blochelektronen in einem Magnetfeld vor. Ein Problem, das seit Jahrzehnten ungelöst war.

Blochelektronen, Magnetfelder und Schmetterlinge

Hofstadter ging in seiner Arbeit von der Energiedispersion von Elektronen in einem Blochband aus. Das angelegte Magnetfeld sei senkrecht zur z -Richtung. Damit brauchen die bekannten Blochlösungen für die z -Komponente nicht weiter untersucht zu werden. Mit dem Tight-Binding Ansatz erhält man die Energiedispersion
für ein Elektron mit dem Impuls k  in einem Kristall mit der Gitterkonstanten a . Gemäß der Peierls-Onsager Hypothese requantisierte Hofstadter den Impuls durch den quantenmechanischen Impulsoperator p-eA/c im Magnetfeld. Den so erhaltenen effektiven Hamiltonian setzte Hofstadter in die zeitunabhängige Schrödingergleichung ein und substituierte

 

Mit einer Landau-Eichung A=H(0,x,0) des Magnetfeldes H  konnte Hofstadter für die Struktur der Lösungen in y-Richtung eine ebene Welle annehmen. Dadurch engen sich die möglichen Lösungen auf solche der Form

 

ein. Zuletzt führte Hofstadter den Parameter

 

ein. Diese dimensionslose Größe gibt das Verhältnis des magnetischen Flusses durch eine Einheitszelle zu einem Flussquant an. Mit all diesen Substitutionen wird die Schrödinger-Gleichung zur eindimensionalen Harper-Gleichung

 

Wannier hatte sich dem Problem in ähnlicher Weise genähert und eine zweidimensionale Differenzengleichung gefunden. Diese reduzierte Alexander Rauh durch die Landau-Eichung auf die eindimensionale Gleichung, die von Hofstadter als die bekannte Harper-Gleichung identifiziert wurde. Mit Hilfe eines von Obermair gefundenen Spurkriteriums konnte Hofstadter die Bedingung -4 ≤ ε ≤ 4 für die Energieeigenwerte festlegen. Die einfachsten Fälle löste Hofstadter analytisch. Doch das Eigenwertproblem wurde zunehmend komplexer. Hofstadter entschloß sich, einen Computer einzusetzen.
Dieser Schritt erscheint heute als naheliegend. Für die damalige Zeit war er jedoch eher unüblich. In der Forschungstradition, in der Hofstadter groß wurde, hatten theoretische Physiker eine komplexe Gleichung zunächst durch Transformationen oder geschickte Umformungen zu vereinfachen, um auf diesem Weg eine analytische Lösung zu finden. Falls dies nicht möglich war, so versuchten die Theoretiker, zumindest Sätze über die Natur der Lösungen zu beweisen.

 

Auch Hofstadters „numerische Spielereien“ wurden von einigen Kollegen äußerst kritisch beäugt. Obermair war jedoch sehr angetan von der Idee, einen Rechner nachts arbeiten zu lassen, und prägte auch den Spitznamen des HP 9820A. Das Gerät war in der Lage, nachts Gold zu spinnen, wie die Tochter des Müllers im Märchen Rumpelstilzchen der Brüder Grimm. Hofstadter nannte den Plot des Energiespektrums dementsprechend den Gplot.

 

Der Gplot zeigt die erlaubten Energiewerte von Blochelektronen im Magnetfeld.
Der Gplot zeigt die erlaubten Energiewerte von Blochelektronen im Magnetfeld.
Aufgrund der Ähnlichkeit zu einem Schmetterling wurde fortan auf das Spektrum unter dem Namen Hofstadter-Butterfly Bezug genommen. In Regensburg zeichnete Hofstadter dieses Spektrum mit der Hand, Wannier lehnte Hofstadters Zahlenspielerei allerdings zunächst ab: Hofstadter solle besser für seine Dissertation bereits bekannte Literatur zusammenfassen, anstatt Pseudowissenschaft zu betreiben. Erst als Hofstadter wieder zurück in Oregon mit Hilfe von Rumpelstiltskin, einem amerikanischen Rumpelstilzchen, und einem angeschlossenen Plotter die Details des Spektrums veranschaulichen konnte, setzte bei Wannier ein plötzlicher Gedankenumschwung ein. Er erkannte die Bedeutung der Arbeit und entschuldigte sich bei Hofstadter für seine Fehleinschätzung. Kurze Zeit später veröffentlichte Hofstadter seine Ergebnisse in der Physical Review B 14(1976):2239-2249.

 

Rauh und der Doktorand John Schellnhuber näherten sich von einer anderen Seite dem Problem. Sie gingen von Landau-Niveaus der Elektronen in einem Magnetfeld aus und betrachteten diese in einem zweidimensionalen periodischen Potential mit Hilfe der Störungsrechnung. Schellnhuber konnte so in seiner Dissertation die physikalische Begründung der Peierls-Onsager Hypothese geben.

 

Seit etwa 15 Jahren ermöglicht es die Halbleitertechnologie, den Hofstadter-Schmetterling direkt nachzuweisen. In lateralen Halbleiterübergittern in einem homogenen Magnetfeld kann mit Hilfe von Magnetotransportmessungen das Spektrum experimentell bestimmt werden.

 

Über die Physik hinaus — Gödel, Escher, Bach

Die ersten Vorarbeiten zu seinem Buch Gödel, Escher, Bach stellte Hofstadter bereits vor Beginn seiner Doktorarbeit an. Nach der Publikation des Gplot kehrte Hofstadter der Physik den Rücken und wandte sich vollständig der Arbeit an seinem Buch zu. Es erschien im Jahr 1979. Ein Jahr später wurde er für das Buch mit dem Pulitzer-Preis im Bereich Non-Fiction ausgezeichnet. Den Textsatz der Orginalausgabe nahm Hofstadter mit Hilfe des Programms TV Edit am Institute for Mathematical Studies in the Social Sciences der Universität Stanford selbst vor. Bemerkenswert ist auch die Form der Darstellung, die Hofstadter wählte. Er präsentierte neue Begriffe zunächst in einer anschaulichen Art und Weise in Dialogform. Im darauffolgenden Kapitel diskutierte er sie in abstrakter Form.

 

Das zentrale Thema in Hofstadters Buch ist die Selbstähnlichkeit oder Selbstbezüglichkeit. Diese fand er in seltsamen Schleifen in den unterschiedlichsten Bereichen wieder. Hofstadter definierte die Bewegung auf einer seltsamen Schleife über eine Bewegung auf Stufen innerhalb eines hierarchischen Systems nach oben oder unten, bei der man plötzlich wieder am Ausgangspunkt angelangt. In der Kunst entdeckte er sie in den Grafiken von Maurits C. Escher, in der Zahlentheorie in Kurt Gödels Satz von der Unvollständigkeit axiomatischer Systeme und in der Musik in Johann S. Bachs Variationen und Modulationen eines Themas, die den Hörer schließlich wieder zum Ausgangspunkt zurückführen.

 

Mehr zum Thema

Anlässlich des 50. Jubiläums der Universität Regensburg veranstaltet die Fakultät für Physik ein Symposium mit Douglas Hofstadter. Darüber hinaus ist Douglas Hofstadter zu einem populären Abendvortrag eingeladen. Nähere Informationen finden Sie hier: 2017 - 50 Jahre Lehre an der Uni Regensburg

Darüberhinaus war Jörg Mertins von der Jenaer Physik so nett, die Broschüre, die ich 2004 erstellt hatte, neu zu setzten. Sie ist jetzt als PDF zum Download verfügbar.

 

 

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Erinnerungen an die Genese des Hofstadter-Butterflys
Hofstadter_Schmetterlinge_im_Festkoerper
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